Seit über drei Jahren messe ich morgens meine Herzfrequenzvariabilität. Eine echte Auswirkung auf mein Training hat das bisher aber nur an schlechten Tagen gehabt (Krankheit, Überlastung) – als objektive Bestätigung meines subjektiven Empfindens, dass eine Pause angesagt wäre. Vielleicht habe ich das Potential der morgendlichen Messungen aber noch nicht ausgeschöpft.
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Aktuelle Studien
Ich kannte bereits eine Studie, in der die HRV dafür benutzt wurde, konkrete Entscheidungen für das tägliche Lauftraining zu treffen (siehe: „Endurance training guided individually by daily heart rate variability measurements„). Das Setup war relativ einfach: bei im Vergleich zur Baseline gleichbleibender oder höherer HRV am Morgen wurde intensives Training verschrieben. Wenn die HRV plötzlich stark oder sogar über zwei Tage fällt, war lockeres Training oder Erholung angesagt. Ergebnis: die so gesteuerte HRV-Gruppe hat sich in den gemessenen Parametern signifikant stärker verbessert als eine Vergleichsgruppe.
In einer neueren Studie (siehe: „Training Prescription Guided by Heart Rate Variability in Cycling„) wurde die Steuerung auf Radfahrer angewendet und sogar noch verfeinert. Wie man im TrainingPeaks-Blog ganz gut nachlesen kann, wurde in die Entscheidungsmatrix zusätzlich auch Schwellentraining integriert sowie eine Regel zur Vermeidung von monotoner Trainingsbelastung. Auch hier wurden gute Ergebnisse erzielt.
Ganz aktuell gibt es auch ein Fallbeispiel aus Japan (siehe: „Fine-tuning training strategy based on heart rate variability: A case study of a middle-distance runner„), in dem es einem Mitteldistanzläufer durch die HRV-Trainingssteuerung gelang, nach vier (schlechten) Jahren wieder eine erfolgreiche Saison zu laufen. Je nach Entwicklung der HRV wurde das intensive Training reduziert (weniger Intervalle) oder ganz ausgesetzt. Interessant für mich daran war, dass genau mein Setup zum Einsatz kam (Polar H10 und EliteHRV).
Wie gesagt: zu einer so konkreten Steuerung habe ich meine Messungen nie benutzt. Zeit, mal damit anzufangen. ;) Denn ich muss schon zugeben, dass meine eigenen Erfahrungen mit den täglichen HRV-Werten die Hinweise aus den Studien unterstützen.
Minimalwissen HRV
Zur Herzfrequenzvariabilität habe ich schon viel geschrieben, daher hier nur ganz kurz: es geht um die sich minimal verändernde Zeit zwischen zwei Herzschlägen. Diese Variabilität wird vor allem durch die zwei Gegenspieler des vegetativen Nervensystems gesteuert: den Sympathikus und den Parasympathikus. Während der eine für die Aktivierung von Leistungsreserven für besondere Belastungen zuständig ist, kümmert sich der andere eher um Erholung und Regeneration. Je nach dem welcher der beiden gerade stärker aktiv ist, weicht die HRV nach oben oder unten vom Durchschnitt (der Baseline) ab und erlaubt somit Rückschlüsse auf Erholungsbedürfnis oder Leistungsbereitschaft des Körpers.
Funktionsweise meiner Trainingssteuerung
Idee
Wie in den Studien skizziert, würde ich gerne aus den morgendlichen HRV-Messwerten konkrete Ableitungen für mein Training treffen. Das sollte idealerweise dazu führen, dass der Trainingsreiz zum aktuellen Belastungs- bzw. Erholungszustand des Körpers passt, was wiederum zu einer besseren Adaption führen soll.
Folge
Das bedeutet natürlich: nicht der Kalender bestimmt den Zeitpunkt der Trainingseinheiten, sondern die Entwicklung der HRV. In der Theorie. ;) Rein praktisch kann ich meine Läufe nicht völlig frei über die Woche verteilen und komme doch wieder auf die üblichen Trainingstage. Auch die Verteilung der Trainingseinheiten ist erstmal so wie immer: mittwochs HIT und samstags langer Lauf, dazwischen jeweils noch eine lockere Einheit.
HRV-Steuerung
Bewegt sich die HRV in der Nähe der Baseline, kann das Grundlagen-Training wie geplant durchgeführt werden. Beim HIT wird die geplante Intensität aber reduziert. Aus 10 Intervallen werden dann vielleicht nur 6 oder 8; aus einem langen Lauf wird ein normaler Grundlagenlauf. Zu starke Abfälle führen zur Laufpause oder zumindest zu einem regenerativen Lauf.
Sollte das Pendel in die andere Richtung ausschlagen und der Körper signalisiert besondere Leistungsbereitschaft, kann das HIT-Training auf diesen Tag vorgezogen (oder nachgeholt) werden. Gibt es keine positiven Ausschläge, gibt es auch kein intensives Training.
Mal ganz konkret: am 20.11. hatte ich eine intensive Trainingseinheit mit 3x5x45s Intervallen geplant. Die HRV lag mit einem EliteHRV-Score von 55 genau auf dem 2-Wochen-Trend. Demnach hätte ich die Anzahl der Belastungen reduzieren sollen, hätte die Einheit so aber machen können. Gleichzeitig war meine Ruheherzfrequenz aber drei Schläge oberhalb der Baseline. Durch dieses Warnsignal habe ich die Einheit dann ganz ausfallen lassen. Schon am nächsten Tag war das Bild genau umgekehrt: sowohl HRV als auch Ruhepuls waren satt im grünen Bereich und ich hätte die Intervalleinheit nachholen können – wenn ich nicht zu lang im Büro gesessen hätte. ;)
Hilfsmittel
Auch wenn ich gerade eine HRV-Brücke zwischen dem Orthostatischen Test bei Polar und TrainingPeaks geschlagen habe, ist der verlässlichere Weg zu verwertbaren HRV-Messungen die App EliteHRV in Kombination mit einem Polar-Brustgurt (H7 oder H10). Diese Kombination nutze ich seit Jahren und sie ist sehr bewährt. Einen großen Pluspunkt gibt es für die automatische Synchronisation zu TrainingPeaks und die Möglichkeit eines sauberen Datenexports.
Grundsätzlich würde EliteHRV für die Steuerung schon reichen. Ich habe mir aber natürlich ein Chart in WKO5 programmiert, in dem ich die abgeleitete Trainingsempfehlung visualisieren und mit der tatsächlich ausgeführten Belastung vergleichen kann. So bekomme ich über die Farbe der Messpunkte direkt eine Trainingsempfehlung (siehe Liste links).
Ausserdem verfolge ich hier die Standardabweichung der HRV-Werte, gemessen am Durchschnitt der letzten 180 Tage (grün-rote Kurve unten). Denn in den Studien gibt es Hinweise darauf, dass eine geringere Abweichung mit einer besseren Trainingsadaption einher geht.
Erfahrungen in der Praxis
EliteHRV
Ein Aspekt, den ich bei EliteHRV zunächst verflucht habe, hat sich als sehr nützlich erwiesen: die App berechnet zwar jeden Tag alle relevanten HRV-Metriken, die Zeigergrafik und der TrainingPeaks-Export werden aber von einem „HRV-Score“ gefüttert. Der basiert zwar auf dem lnRMSSD, wird aber auf eine Skala von 0-100 übertragen (siehe: EliteHRV-Hilfe). Das führt dann zu der Zeigergrafik, in der die mittlere 10 für einen HRV-Wert auf der Baseline steht und von da aus zu beiden Seiten (jeweils bis Null) die Abweichungen entsprechend der Aktivität des Sympathikus und Parasympathikus dargestellt sind.
Wer genau hinsieht: die 10 steht schon für den Parasympathikus (sprich: „Leistungsbereitschaft“) und damit für intensives Training. Liegt der Wert zwischen 7 und 9 sollte man die Intensität mindestens reduzieren oder gleich auf LIT zurückgreifen. Zwischen 4 und 6 ist demnach Regeneration angesagt und darunter Pause. So zumindest meine (!) Übertragung der Studienvorgaben auf die Skala der App.
Als weitere Daumenregel habe ich davon abgeleitet: bei 10 kann man 100% der üblichen Distanz laufen, bei 7 nur 70% und bei 3 nur 30%. Wenn die Standardrunde also 10 km lang ist, kann man die Skala direkt als Entfernungsvorgabe lesen. ;) Wie gesagt: grobe Daumenregel. Gemeint ist natürlich eigentlich die Trainingsintensität und nicht die Distanz.
Training
Ich muss zähneknirschend zugeben, dass die abgeleiteten Trainingsempfehlungen schon echt gut sind… ;) Das merkt man immer dann, wenn man sich darüber hinweg setzt und meint, trotz einer 7 in EliteHRV einen (ungewohnt) langen Lauf durchziehen zu müssen. Kann gut gehen, muss aber nicht.
Eigentlich hätte ich auch erwartet, dass man immer nur auf „den einen guten Tag“ wartet, um endlich seine Intervalle laufen zu können, und ansonsten zum Joggen verdammt ist. Das ist aber ganz klar nicht so: bei mir ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass nach einem Trainings- und einem Pausentag die HRV überdurchschnittlich hoch ist. Es gibt auch deutlich mehr gute Tage, wenn man sich an den anderen nicht übernimmt (sprich: an die HRV-Empfehlungen hält). Denn umgekehrt gilt eben auch, dass diese „Überlastung“ bestraft wird.
Nach vier Wochen sehe ich sowohl bei der Herzfrequenzvariabilität als auch beim Ruhepuls einen sehr positiven Trend. Beide Kurven bewegen sich nach oben (HRV steigt, Puls sinkt) und die Abweichungen von Tag zu Tag werden geringer.
Kritik
Selbst mir als Daten-Geek ist klar, dass ein gutes Körpergefühl alle Messungen und Berechnungen in den Schatten stellt. Es ist nur ganz selten passiert, dass Messung und Gefühl unterschiedliche oder gar gegensätzliche Hinweise gegeben haben. Daten zu sammeln ist also eher eine Krücke als „der beste Weg“.
Auch braucht es ein wenig Erfahrung und „Hygiene“, um saubere HRV-Werte zu ermitteln. Jede Ablenkung und besonders jede Art von Stress kann die morgendliche Messung verfälschen und unbrauchbar machen. In der Woche vor einem Wettkampf reicht manchmal ein Gedanke daran, um den Herzschlag deutlich zu beschleunigen. Genau so Gedanken an den Ärger im Büro, lärmende Kinder auf dem Flur, zwei starke Nieser…
Dem entsprechend kann man sich letztendlich auch nicht auf jede Einzelmessung verlassen und sollte her den Trend im Auge haben. Was natürlich der Idee widerspricht, tägliche Trainingsempfehlungen von der HRV abzuleiten. ;)
Fazit
Nach nur ein paar Wochen Training ist es zu früh, um ein echtes Fazit zu ziehen. Aber ich wollte auch kein halbes Jahr warten, bevor ich etwas dazu schreibe. Die Steuerung über EliteHRV hilft mir jedenfalls dabei, gute Entscheidungen zu treffen. Bisher sieht es so aus, als wenn das dauerhaft zu einer positiven Entwicklung führt – ich also vielleicht mal kürzer als geplant trete, dafür aber langfristig mit einer besseren Konstanz trainieren kann.